DIE DREI versuchen mit jeweils drei kurzen Beiträgen zu einer Fragestellung, den Marxismus auf Themen anzuwenden, die es in der Form zur Zeit von Karl Marx noch nicht gab. Oder klassische marxistische Thesen mit aktuellen Bedingungen zu konfrontieren. Folge IV.: Gibt es die Arbeiterklasse noch?
Das neue MASCH-Programm ist da!
DIE DREI sind im Kern Michael Hopp und Tobias Reichardt, Mitglieder der Marxistischen Abendschule Hamburg (MASCH). Hier seht Ihr das Programm und könnt Euch über Kurse informieren: https://www.masch-hamburg.de/
Neue AutorIn für DIE DREI: Barbara Eder
Nach dem Zugang von Michael Heidemann, Philosoph und Politikwissenschafter in Münster und Oldenburg, hat sich das Team nun nochmals erweitert: Um die österreichische AutorIn und DozentIn Barabara Edeer, die sich mit Themen wie Kunst, Technik, Gesellschaft und Feminismus beschäftigt. Ihre letzte Veröffentlichung im marxistischen Kontext ist „Das Denken der Maschine“ (2023), das sich ausgehend von Marx´ berühmten „Maschinenfragment“ und mit Bezug auf andere Quellen wie Mumford und Simondon mit der Bedeutung von Maschinen für die Befreiung des Menschen auseinandersetzt.
Zu dem Buch wird es mit der Autorin zu Beginn des nächsten Jahres einen ROTEN SALON HAMBURG geben.
Wir freuen uns, dass Barbara nun mitschreibt!
Hier ihre Literaturliste: https://www.barbaraeder.org/
Wir alle drei freuen uns auf Diskussionsbeiträge! Hier im Blog als Kommentar oder bei “Michael Hopp” auf Facebook, wo die Beiträge im Laufe der Woche auch einzeln gepostet werden.
Gibt es die Arbeiterklasse noch?
Das ist eine oft gestellte und viel behandelte Frage, die man auf keinen Fall voreilig beantworten sollte. Vor allem soll man sich hüten, vor lauter Differenzierungs- und Heterogenitätsfestellung das Gemeinsame, das Verbindende in den Hintergrund treten lassen. Oder den Blick allzusehr auf Deutschland zu fokussieren.
Im MAC Blog am 26. September war einer der letzten Texte des verstorbenen Achim Szepanski zu lesen, der auf des Elend des globalen Proletariats hinweist, das in vielen Regionen nicht besser gestellt ist, als es das klassische Proletariat zu Beginn der industriellen Revolution war, wie es Marx beschrieben hat.
Lest hier den Text von Szepanki als Ergänzung zu DIE DREI:
Die „Klasse für sich“ ist allgegenwärtig
Von Barbara Eder, Wien
“Proletarier aller Länder, vereinigt euch!” So lautet der Schlachtruf am Ende des Kommunistischen Manifests von 1848. An anderer Stelle war bei Marx bereits davon die Rede, dass es alle Verhältnisse umzuwerfen gälte, “in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.” Die Lücke zwischen den Zitaten markiert mehr als einen zeitlichen Abstand, sie lässt Raum für weitere Spekulationen, denn: Nicht jedes erniedrigte Wesen versteht sich heute noch als Proletarier – und damit als Teil einer internationalen Arbeiterklasse, die angetreten ist, ihre Ausbeutung zu beenden.
Zum Verfall einer ehrbaren Kategorie hat ihre sozialwissenschaftliche Profanierung maßgeblich beigetragen. Studien zur Erhebung sozialer Lagen erstarren regelmäßig im Tabellenformat von Zahlenreihen – und doch destillieren ihre Aufraggeber aus allem, was darin unterdurchschnittlich erscheint, die ersten “Minderleister” heraus. Man muss sie verwalten und drangsalieren, sie schikanieren und infantilisieren – und selbstverständlich auch knallhart verwalten. Durch Hartz IV und 1-Euro-Jobs hat Gerhard Schröder sich eine “Unterschicht” geschaffen wie sie ansonsten nur im Bilderbuch für Bosse steht, das Ziel: ein Niedriglohnsektor zwecks Mehrung von Unternehmensprofit. Die Selbstdistinktion als Selfmademan, der sich auf die per Grundgesetz annoncierte Chancengleichheit berufen kann, fällt nunmehr leicht – begleitet von den schicken Thesen Ulrich Becks, der nach dem “Fahrstuhleffekt” – dem Gleichbleiben sozialer Ungleichheit in einer um eine Etage nach oben gefahrenen Klassengesellschaft – auch gleich die “Multioptionsgesellschaft” konstatierte.
Sozialdemokratischer Distinktionsgewinn setzt auf die falsche Interpretation der feinen Unterschiede: Nicht mit vollen Mund sprechen und Wein trinken. Seither darf man keine abgearbeiteten Hände mehr haben, man hat gepflegte Fingernägel. Zum Pschyrembel für Aufsteigererzählungen degradiert, ist Bourdieus Grundlagenwerk zum Jackpot im Imitation-Game verkommen. Das Gerede über Habitusformen und Kapitalsorten findet auf der Höhe des gegenwärtigen Verblendungszusammenhangs statt. Klasse zu sein, war hingegen nie eine woke Selbstdefinition, sondern ein politischer Aktionszusammenhang; die dafür zentrale Kategorie hat ihren Ursprung nicht in irgendwelchen Lebenswelten, sie ist das transzendentale Fundament jeder marxistischen Theorie. Eine politisch authentische “Klasse für sich” ist allein schon aus diesem Grund allgegenwärtig und weitaus mehr als nur ein leckerer Pfirsich – als Wurfgegenstand wäre er dennoch bestens geeignet.
Sie ist groß wie noch nie – sie weiß es aber nicht
von Michael Heidemann, Bremen
Die Arbeiterklasse ist im 21. Jahrhundert angesichts einer Weltbevölkerung von 8,2 Milliarden Menschen so groß wie noch nie. Nach Marx entscheidet die Stellung zu den Produktionsmitteln über die Klassenzugehörigkeit. Er unterscheidet drei Hauptklassen: die Arbeiter, die Kapitalisten und die Grundeigentümer. Die Angehörigen dieser Klassen beziehen ihre „Revenue“ – sprich: ihr Einkommen – aus dem Lohn, dem Profit und der Grundrente (die nicht zu verwechseln ist mit der Altersrente für Lohnabhängige). Die materielle Existenz der allermeisten Menschen ist noch immer durch Lohnarbeit bestimmt. Sie verfügen weder über Produktionsmittel noch über Grund und Boden.
Analytisch lässt sich die Arbeiterklasse weiter unterteilen in Industriearbeiterschaft, Handwerker, Angestellte, Dienstleister u.a. Für die Erklärung der Entstehung und Verteilung des Mehrwerts durch Marx sind diese Differenzierungen wichtig, sie ändern aber nichts an der Grundbestimmung. Wer mit dem empirischen Blick an die Erklärung gesellschaftlicher Zusammenhänge herangeht, droht recht schnell den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen und ist geneigt, vom Verschwinden der Arbeiterklasse zu reden. Doch erstens sind Arbeiter gemäß der obigen Bestimmung nicht nur Blaumannträger, die am Fließband malochen. Und zweitens, wenn man sich doch auf die Industriearbeiter konzentrieren möchte, zeugt es von einem national bornierten Blick, ihr Verschwinden zu behaupten. Die Industrieproduktion hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend in die sog. Schwellenländer verlagert. Nur weil manches postmodern verwirrte akademische Hirn sich materielle Produktion kaum noch vorstellen kann, wenn sie nicht direkt vor der eigenen Haustür stattfindet, entstehen Smartphones, E-Autos und Panzer nach wie vor nicht durch Sprechakte.
Damit ist die Ideologie angesprochen. Wer qua Stellung im Produktionsprozess ‚an sich‘ und objektiv Mitglied der Arbeiterklasse ist, hat darum nicht automatisch subjektiv (‚für sich‘) ein Bewusstsein seiner gesellschaftlichen Stellung. Die Nation ist der ideologische Bezugspunkt, in dem die Klassengegensätze in einer höheren Einheit aufgehoben werden sollen, in Wahrheit aber nur verschleiert sind. So wurde der Internationalismus von Marx und Engels Lügen gestraft. Nicht nur haben die Proletarier erzwungenermaßen ein Vaterland, sie lieben es oftmals auch ganz bereitwillig.
Die Herausbildung von proletarischem Selbstbewusstsein scheitert heute im Wesentlichen an zwei Entwicklungen. Zum einen geht mit der Fragmentierung der Arbeiterklasse und der weiteren Zergliederung des Produktionsprozesses ein gemeinsamer Erfahrungshorizont verloren. Zum anderen sind die Lohnabhängigen nach 1945 zumindest in den westlichen Industrieländern materiell durch bescheidenen Wohlstand integriert. „Die Proletarier haben mehr zu verlieren als ihre Ketten“ (Adorno). Kommunistische Kritik heute, die auf die „freie Assoziation der Produzenten“ zielt, ist mit der Hypothek belastet, dass der Arbeitsfetisch des real existierenden Sozialismus das Leben der Arbeiterklasse gelinde gesagt nicht verbessern konnte.
Wenn es egal ist, ob man „Arbeiterklasse“ ist
Von Michael Hopp, Hamburg
Die Arbeiterklasse ist nicht verschwunden, aber sie hat sich bis zur Unkenntlichkeit verändert. Statistisch gesehen sind heute weltweit gesehen sogar mehr Menschen in „Lohn und Brot“ als vor 10, 20 oder 30 Jahren. Da viele neue Gruppen abhängig Arbeitender dazugekommen sind, ist der Anteil der Industriearbeiter, auf die sich Marx primär bezogen hat, rückläufig. Die Ausweitung in den Dienstleistungssektor wurde in Deutschland mit der Gründung von verdi begleitet. Seither tun sich Gewerkschaften immer schwerer, sich auf neue entstehende Berufsbilder oder auch neuartige Arbeitsverhältnisse einzustellen. Sind zB. Solo-Selbstständige Teil der Arbeiterklasse?
Nach einer Studie der Friedrich Ebert-Stiftung ja, ihrem Bewusstsein nach aber eher nicht. Auch Angehörige der Digitalbranche fremdeln oft mit Gewerkschaft und Arbeiterklasse und sitzen dem Irrglauben auf, digitale Geschäftsmodelle seien eine neue Art von Wirtschaft.
In Wirklichkeit ist die eiserne Trennwand zwischen denen, die nur ihre Arbeit anbieten können und denen, die Kapital für sich arbeiten lassen können, geblieben, ja vielleicht sogar noch höher geworden. Selbst für besser Verdienende ist der Kauf einer Wohnung in der Stadt unerschwinglich geworden und wir haben als neues Phänomen die „working poor“ und das Prekariat als unbarmherzige, sich immer weiter verfestigenden Strukturen. Allen – nicht nur linken – Studien zufolge steigt die Ungleichheit, und zwar in einem Ausmaß, das bis ins bürgerliche Lager als demokratiegefährden empfunden wird. Weltweit nimmt die politische Rechte die Ängste der Menschen in ihre Regie, für die sich das Versprechen der Demokratie nach Freiheit, Fairness und Partizipation nicht erfüllt. Bei acht, bald zehn Milliarden Menschen auf der Welt für die nur begrenzte Ressourcen zur Verfügung stehen, kann man sich gut vorstellen, wie dramatisch Verteilungskämpfe zunehmen werden. Das wird – zusammen mit der Klima-Migration – Chaos sein und niemand wird fragen, wer „Arbeiterklasse“ ist.
Wer gehört also zur Arbeiterklasse? Was wird aus dem marxistischen Mantra? Marx hatte ja schon den erweiterten Begriff von den “erniedrigten und verächtlichen Wesen”, der schon damals über die Arbeiterklasse hinaus ging. Meine Vorstellung ist: Alle gehören dazu, die abhängig ihr Geld verdienen, sich im Kapitalismus eingeschränkt fühlen und die diesen Zustand überwinden wollen. Damit diese „Klasse“ erfolgreich ist, muss sie genauso divers sein wie die Gesellschaft selbst und gerade die junge, digitale Generation einbinden, aber auch die Intellektuellen und Künstler, denn die Linke kann nur erfolgreich sein mit einem Angebot, das über die reine Ökonomie hinausgeht. Ev. kommt das, was früher „Klasse“ + „Partei“ oder später „die Arbeiter“ + „die Linke” waren, etwas durcheinander, aber das spielt keine Rolle, da diese angestrebten Arbeitsteilungen ohnehin eher theoretisch geblieben sind. Und auf das klassische Proletariat, wie es bei Marx definiert war, war eigentlich nie besonders Verlass, wenn es um Revolution ging, aber wer bin ich, sich darüber zu beschweren.