War Kamalas Vater Marxist?

„Your Father is a Marxist“, pöbelte Donald Trump beim ABC News-Duell am Dienstag Kamala Harris an. Sie lächelte es weg.
„Sie ist eine Marxistin – jeder weiß, dass sie eine Marxistin ist“, hatte Trump schon vorher gepöbelt. „Ihr Vater ist ein marxistischer Professor der Ökonomie und hat sie gut unterrichtet.“

Ist Donald Harris Marxist? Der aus Jamaika stammende Vater von Kamala Harris war der erste schwarze Wissenschaftler, der im Wirtschaftsbereich der Stanford University eine feste Anstellung erhielt. Die Standford Daily, die Studentenzeitung der Universität, berichtete 1976, dass es einige Widerstände gegen seine Festanstellung gab, weil er „zu charismatisch war und die Studenten vom neoklassischen Wirtschaftsdenken abbrachte.“ 
Im Rückblick gilt Harris heute als Neu-Ricardianer. Historisch sind hier Zusammenhänge offensichtlich: Karl Marx bezog sich auf die Lehre des Britischen Ökonomen David Ricardo (1772-1873), der damals maßgeblich war für die Entwicklung der noch neuen Nationalökonomie. Allerdings widersprach Marx  ihm in wesentlichen Punkten (fehlende Unterscheidung Mehrwert und Profit z.B.) und entwickelte seine Grundsätze weiter. Die „neoricadianische Schule“ der 1970er und 80er Jahre setzte sich deutlich von Marx ab, indem sie dessen Wert- und Geldtheorie für unzulänglich hielt. Donald Harris ist also kein klassischer Marxist, hat aber sehr wahrscheinlich Marx studiert und weiß sein Werk zu schätzen. Dennoch wird er in vielen Quellen als „marxistischer Gelehrter“ geführt.

Trumps Attacke lief ins Leere

Dass all das reicht,  den heute 86jährigen in den Augen von Donald Trump verächtlich zu machen, überrascht nicht, aber was ist mit seiner Tochter? Die deutsch-britische Wirtschaftszeitung „Investment Week“  stellt zufrieden fest, „Harris hat immer klar gemacht, sich zum Kapitalismus zu bekennen“ und nennt 80 US-Wirtschaftsbosse, die sie als „wirtschaftsfreundlich“ bezeichnen. Und Kamala selbst bezieht sich nur insofern auf ihren Vater, als sie in ihrer Nominierungsrede sagte, er habe „sie gelehrt, furchtlos zu sein.“
Trumps Attacke aus dem TV-Duell ist allerdings ins Leere gelaufen und wurde kaum aufgegriffen, auch in den alles Ungute verstärkenden Echokammern von Social Media nicht. Etwa auf Elon Musks „X“ macht sich Trump selber Konkurrenz, da ist alles voll mit Memes, die sich auf Trumps Katzen und Hunde fressende Emigranten beziehen.
Im TV-Duell hat Kamala Harris hat Trumps Atttacke von sich abperlen lassen, indem sie mit Mitteln der Mimik  eine  Stimmung erzeugte, in der sich ein Dementieren erübrigte. Was wollte sie zum Ausdruck bringen? Dass der Vorwurf absurd sei? Dass Trump gar nicht wisse, wovon er rede und nur Klischees reproduziere? Oder gar auch, dass es keine Schande sein kann, „Tochter eines Marxisten“ zu sein?

Dass die „Tochter eines Marxisten“ in Amerika Präsidentin werden kann, ist zumindest eine ungewohnte Vorstellung. Erste Frau, erste Marxistentochter! Aber warum eigentlich? Und für wen ist das ein Aufreger? „Commie“ mag für viele älterer Amerikaner, die von der McCarthy-Ära noch gehört haben, ein Schimpfwort sein und der „Marxism“ damit eng verknüpft. Aber wissen wir, wie das heute ist, bei den Hispanos, bei den Jungen, bei den rasch wachsenden Bevölkerungsanteilen? Und was sagt Taylor Swift dazu? Immerhin hat ihre dunkelhäutige Konkurrentin Beyonce Knowles mit „Freedom“ dem Wahlkampf der Demokrarten eine Hymne überlassen, die deutlich in der Tradition der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung steht.

unknown 1
Post bei “X”, 13. September 2024

In Deutschland ist der Marxismus kein Thema heute

Und selbst, wenn es völlig folgenlos bliebe – wie erwartbar in den USA auch – wäre es in Deutschland heute schwer, einen rebellischen marxistischen Geist „hip“ zu machen oder zumindest so spürbar, dass sich jemand davon distanzieren müsste. Das war schon mal anders, als die „Bild“-Zeitung gegen Linke hetzte und zur Gewalt aufrief.
Wir erinnern uns, Deutschland erlebte in den 60er Jahren und danach eine Blüte des Marxismus, der sich im Schosse der undogmatischen und antitautoritären  Linken besonders gut entwickeln konnte, obwohl (oder weil) sich diese nicht alleine auf Marx´ Lehren beziehen wollte. Rudi Dutschke liess nie einen Zweifel aufkommen an seinem marxistischen Fundament. Das Charisma und die Popularität von Dutschke, Cohn-Bendit u.a., verbunden mit der Kulturrevolution, für die die Linke damals stand, führten zu einem Interesse an Marx Werk, das nachher nie mehr höher werden sollte. Es war ein Adelstitel und eine Frage von Stolz und Eitelkeit, „Marxist“ zu sein.

Heute ist der Marxismus in Deutschland extrem in der Defensive und tatsächlich etwas, zu dem man sich nicht offen bekennt. In der MASCH (Marxistischen Abendschule Hamburg) etwa, wo der MAC  und ich Mitglied sind, geht noch die Angst vor Berufsverboten um. Olaf Scholz verleugnet zwar seine Stamokap-Jugend nicht, kennt „seinen“ Marx, würde es aber heute weit von sich weisen, Marxist zu sein. Die SPD hat sich 1959 mit dem Godesberger Programm von Marxismus losgesagt. Es mag ein Unfall gewesen sein, daß der Parteivorstand noch 2013, aus dem Anlass zu „200 Jahre Karl Marx“, eine Marx-Broschüre herausgegeben hat, die feierlich mit Marx-Foto im ovalen Rahmen,  einem Faksimile des Umschlags der Erstausgabe des „Kapital“ von 1867 beginnt und gleich zu Beginn Oswald von Nell-Breuning zitiert, den Begründer der katholischen Soziallehre: „Wir alle stehen auf den Schultern von Karl Marx.“  Egal, marxistische Positionen sind in der heutigen SPD eher nicht gefragt.

Auch nicht im BSW der Sarah Wagenknecht, die sich mit ihrem Bestseller „Die Selbstgerechten“  an vielen Stellen implizit (ohne es je ganz offen anzusprechen) vom Marxismus absetzt. Die Unterscheidung zwischen links und rechts hält sie für „nicht mehr so wichtig“, statt für die Lohnabhängigen macht sie sich heute für Mittelstand und Wachstum stark. Uff. Und?

Bleierne Weisheiten, die jede Regung ersticken

Das ganze liest sich schon etwas langweilig, weil man es schon weiß. Dass die Kommunistischen Parteien keine Bedeutung mehr haben und die Sozialdemokratie nicht nur in die Mitte gegangen ist, sondern von da aus eher nach rechts – das ist in „der Linken“ schon so viele Millionen mal angeprangert und beklagt worden, dass selbst für das Achselzucken die Kraft fehlt. Das gilt auch für die Erfahrung, dass ehemals linkere Parteien, wie die Grünen oder neuerdings das BSW, sofort nach rechts gehen, wenn sie in Regierungsverantwortung eingebunden werden oder diese zumindest in Aussicht steht. Das sind die bleierne Weisheiten, die jede Regung ersticken. Völlig unmarxistisch übrigens, denn Marxismus bedeutet die Überzeugung, dass wir alles verändern können und zwar innerhalb eines Menschenlebens.
Wäre denn ohne Abwendung vom Marxismus alles anders, besser verlaufen? Ja, könnte sein, müssten Marxisten antworten. Aber was hätte das bedeutet, bedeuten können?
Wir haben uns schon so weit in der Depression vergraben, dass uns dafür jede Vorstellungskraft fehlt, ganz ähnlich übrigens, wie wir anderen vorwerfen, sie könnten über den Tellerrand des Kapitalismus nicht mehr hinausdenken. Obwohl wir mit Hilfe von Marx, die Bedingungen der Entfremdung verstanden hatten, sind wir ihr selbst anheim gefallen, so sieht es aus.

Von der Depression sagen Hirnforscher, dass sie ganze Hirnareale lahm legen kann. Ein besonders blinder Fleck bei uns scheint zu sein, dass wir gar keine Erinnerung daran haben, wann, wie, warum, mit welchen Argumente diese Weg-Entwicklung vom Marxismus begonnen hat. Wir nehmen sie nur noch als unverrückbares Ergebnis unverstandener Veränderungen war.
Wer kann drei Gründe aufzählen, warum in Deutschland der Marxismus so schnell und so stark an Strahlkraft verloren hat?  Wir hatten immer recht (sagen wir mal). Warum hat man uns nicht geglaubt? Wissen wir nicht.

Für die allermeisten gilt heute die Kowalczuk-Linie, daß der Kommunismus/Sozialismus zwar vielleicht eine gute Idee sei, aber immer dann, wenn er umgesetzt werden sollte, zu Horror, Terror und Gulag führte und schlimme Diktatoren hervorbrachte. Dass Marx der freundliche Onkel ist, aber, kaum dass er tot war, Lenin und Stalin das Sagen hatten. Das ist im Prinzip, was auch in der Schule vermittelt wird.
Lässt sich die Lehre vom Marxismus (damit gemeint immer das Werk Marx-Engels und alle, die sich darauf beziehen) aus den Ruinen seines Missbrauchs befreien? Beziehungsweise, warum sollte man sich der Anstrengung unterziehen? Meine Antwort: Solange es den Kapitalismus gibt, bleibt das Werk von Marx die bis heute unübertroffene Grundlage, diesen zu verstehen und Wege zu seiner Überwindung zu finden. Und wenn man es ganz geschickt anstellt, kann man damit sogar – PräsidentIn von Amerika werden!

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Scroll to Top
Scroll to Top