
Von Henry Grotkasten
»Treffen sich ein Atheist und ein Christ«, … so könnte einer von Slavoj Žižeks Witzen beginnen, um sein neuestes Buch »Christlicher Atheismus« (2025) vorzustellen. Sich mit dem christlichen Glauben auseinanderzusetzen und darüber zu schreiben, scheint zur Unzeit zu kommen. Schaut man genauer hin oder schaut überhaupt hin, könnte einem hingegen auffallen, dass im Gegensatz zu dieser Einschätzung wenige, leise, doch präsente Auseinandersetzungen zu dem Thema in Buchform erscheinen. Beispiele, die mir besonders präsent sind: Fasst zeitgleich mit Žižek veröffentlichte sein Kollege Byung-Chul Han »Sprechen über Gott« (2025) (das ich in diesem Blog hier besprochen habe: https://michael-hopp-texte.de/hey-gott/). Dessen Verlag, Matthes und Seitz Berlin, gibt seit letztem Jahr eine neue Reihe (»Theologische Brocken«) heraus, die sich um die Themen Spiritualität, Glauben und Religion dreht und in der u.a. die »Exerzitien« von Ignatius von Loyola neu erschienen sind. Ein weiteres Beispiel: Der neue Film des Regisseurs Wes Anderson, »Der phönizische Meisterstreich« (2025), entpuppt sich als eine Meditation über den (leiblichen/symbolischen) Vater, mit einem gekonnt unaufdringlichen Bezug auf den christlichen Glauben und seine Praxis.
Wo ist der Vater? Wo ist er?!
Žižek Buch tritt in einer Zeit auf, in der der Wunsch nach einer übergeordneten Autorität und einem universellen Sinn lauter denn je formuliert wird. Es ist ein (wie bei Žižek zu erwartender) wilder Ritt durch unter anderem die Theorie von Hegel, Marx, Sigmund Freud, Jacques Lacan, einigen Bibelstellen und ein wenig Kritischer Theorie, mit Adorno. Ausführlich kritisiert er linke und rechte Strömungen, die ›Wokeness‹ und ›Political Correctness‹ und kommt zu dem Schluss, dass es uns Menschen an einem phantasmatischen Überbau und einer ethischen Verwurzelung fehlt, die Fundament für unser politisches Handeln ist. Auch wenn Gott darin ambivalent bleibt, liest sich zwischen den Zeilen ein theologisches Bekenntnis Žižeks heraus, das gleichzeitig dem Titel des Buches bis zum Ende treu bleibt. Für Gläubige wie Atheist:innen (und Materialisten), ist es damit wahrscheinlich ein unangenehm zu lesendes Buch, das gleichzeitig viel an Einsichten und möglichen Selbsterkenntnissen bietet. Žižeks teilweise sehr harten, thematischen Schnitte und Ausschweifungen, bieten diverse Zugänge zu dem Thema – bilden jedoch auch ein Chaos, das die Früchte der Erkenntnis sehr weit verstreut.
Gott lässt sich schwer ersetzen
Žižeks theoretischer Ausgang befindet sich in einem Verhältnis von Protagonist und Antagonist mit G.F.W Hegel und Jacques Lacan. Expliziter, mit dem Verständnis des ›Absoluten‹ von Hegel und der Konstruktion des ›Großen Anderen‹ von Lacan. Auf beide Modelle wird immer wieder Bezug genommen, aus unterschiedlichsten Richtungen, mit unterschiedlichsten Ausgängen. Gott, der Heilige Geist und Jesus Christus sind in der Gegenüberstellung Gedankenfiguren, die zwar in ihrer historischen Bedeutung ernst genommen werden, jedoch unentwegt mit einer Neu- und Umdeutung versehen werden. Gott wird demontiert in seiner Manifestation des endgültigen (guten) ›Einen‹, das als geschlossenes, in sich kohärentes Etwas, am Ende aller Bedeutungen steht, als Kitt für den Riss fungiert, der sich als Trauma des Menschen in der für ihn uneindeutigen Konstitution des Bewusstseins bezeichnen lässt. Dieser „Kitt“ ist so bedeutsam, dass er in der Gestalt und der weiteren Logik der theoretischen Annahme nicht einfach verneint werden kann. Die Verneinung hat demnach zur Folge, dass der Glaube an einen ›Gott‹ wiederkehrt in verstellter und teilweise verdrehter Form. Moralvorstellungen und das Handeln nach konstruierten, nicht hinterfragten Prinzipien und idealistischen Vorstellungen, bilden für Žižek einen Ersatz für Gott. Universitäre Wissenschaft und der Kapitalismus besitzen so bspw. für ihn Eigenschaften eines Glaubenssystems. Mit Verweis auf die Quantenmechanik und einer Kritik am Positivismus führt er weiter aus, dass das, was wir für exakt und messbar halten, auch ‚nur‘ aus der Position von uns Menschen, unserem Bewusstsein und Wahrnehmung, gebildet und ermittelt wurde. Žižek integriert Gott wieder in das Bewusstsein in einer Form der Institution und des Zweifels; als ein nicht-Eins, als das endgültige, durchgestrichene Eine, mit beispielsweise der Frage: »Glaubt Gott an sich selbst?«.
Was hätte Jesus getan?
Auf den letzten Seiten seines Werkes kommt Žižek auf das Gedicht »Die Zwölf« von Aleksandr Blok, das den Gang von zwölf Rotarmisten durch das verschneite Petrograd während der Oktoberrevolution 1918 erzählt. In dem Gedicht ist Jesus Christus eine zentrale Figur, er taucht darin als „virtueller Schatten“ auf, der das revolutionäre Kollektiv durch das Chaos der Revolution, die Hölle des abwesenden Gottes begleitet. Von Žižek als eine Vorstellung, eine Erscheinung beschrieben, in der er nicht Anführer ist, sondern Begleiter für Werte und den kollektiven (heiligen) Geist. Einige Seiten zuvor wurde auf Jesus in seiner Position als Opfer für unsere Sünden fokussiert, der mit seinem Ausruf: „[…] Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ (Markusevangelium 15,34) die Abwesenheit Gottes, seines Vaters beklagt. Der Heilige Geist wird von Žižek im Anschluss an diese Abwesenheit als ein emanzipatorisches Kollektiv konstruiert, Menschen, die durch Sprache verbunden sind, die anerkennen, dass Gott uneins, verborgen, sogar böse ist, allerdings dadurch nicht in einen Individualismus verfallen, der permanent Authentizität mahnt und sich seines Selbstbildes versichern muss. Der Heilige Geist befreit von dem Ego, das das ›Ich‹ als letzte Versicherung sieht, wo doch das ›Ich‹, eine psychische Konstruktion ist, die so fragil ist.

Woran glaubst Du?
Žižek trifft für mich mit seinem Rundumschlag ins Schwarze, wenn er Anregungen für Erklärungen auf die Fragen gibt, warum bspw. die Menschen die Wissenschaft haben, jedoch im Hinblick auf den Klimawandel nur wenige sie ernst nehmen. Wieso ein Vergewaltiger und Betrüger zum mächtigsten Mann der Welt gewählt wurde und Menschen sich kirchlich trauen lassen, obwohl sie aus der Kirche ausgetreten sind und auf Nachfrage antworten, dass sie nicht an Gott glauben würden. Er rüttelt am Narzissmus religiöser Fundamentalisten genauso wie an dem überzeugter Materialisten, die sich jeweils zu ihrer Wahrheit mit großem Stolz bekennen. Die Stärke seiner Schrift ist es, dass sich über jeden Absatz, teilweise über jeden Satz, ein Streitgespräch entzünden könnte. Diese Kontroverse in Zeiten der Unsicherheit und Unbeständigkeit, mit von vielen als selbstverständlich angesehenen Sachverhalten, hat etwas Beruhigendes. Das Lesen der Bibel nach Žižeks ‚Irritationen‘ wird zu einer Lektüre, in der man sie neu lesen, hinterfragen und gegenwärtig machen kann. Die Offenbarung am Ende dieser Neulektüre ist eine Erinnerung; der Mensch war und ist uneins mit sich und der ihn umgebenden Materie. Im Konflikt mit Gedanken und Dingen sucht er nach Sinn, Einheit und Vollständigkeit in dem in der Familie, zwischen Vater, Mutter und Geschwistern, durch Sprache programmierten sozialen Wesen, das nie gänzlich in der Gemeinschaft und Gesellschaft aufgeht. Žižek hat, auch wenn es vielleicht nicht seine Absicht war, den Staub von der heiligen Schrift gepustet und Verhärtungen im Verständnis des Glaubens, die u.a. durch die Institution der Kirche selbst entstanden sind, gelockert.
Slavoj Žižek, Christlicher Atheismus – Wie man ein wahrer Materialist wird, S. Fischer Verlag, 2025, 32,00 €, e-Book 24,99 €
Weitere Texte von Henry Grotkasten: henrygrotkasten.substack.com