Bericht einer Veranstaltung von Finn Schreiber
Wozu heute noch Marx lesen? Diese Frage hört man öfter, insbesondere von jungen Linken, die mit dem alten weissen Mann nichts mehr zu tun haben wollen. Selbst organisierte Linke, die sich als Kommunisten bezeichnen, haben oft noch nicht einmal eine Zeile von Marx gelesen. Unbestreitbar ist dennoch, dass es kaum eine andere Theorie gibt, die eine solche Bedeutung für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts hat wie der Marxismus.
Warum man heute noch Marx lesen sollte und aus welchen Lebenslagen und mit welchen Gründen man den Einstieg finden kann, haben verschiedene Autoren aus dem Umfeld der MASCH (Marxistische Abendschule Hamburg) in einem gemeinsamen Buch zu ergründen versucht, das an diesem Donnerstag (06.11.2025) in der ehemaligen HWP der Universität Hamburg vorgestellt wurde.
Wozu Marx? – Gesellschaftskritik und individuelle Erfahrung, Tobias Reichardt, Karsten Kunibert Krüger-Kopiske (Hrsg.), Würzburg 2025, im Verlag Königshausen & Neumann.
https://verlag.koenigshausen-neumann.de/product/9783826093463-wozu-marx

Unter der Moderation von Lektürekursteilnehmer Armin stellte Mitherausgeber und MASCH-Vorsitzender Tobias die Entwicklung und den Inhalt des Buches dar. Das Buch soll einerseits die verschiedenen Perspektiven und Diskussionen innerhalb der MASCH widerspiegeln und andererseits eine verständliche und anregende Einführung in die Marx’sche Theorie bieten. Neben der acht Texte bietet es ein Gespräch über die Marx-Lektüre mit Kursteilnehmern des „Kapital“-Lektürekurses der MASCH. So berichtete Armin von seinem gewerkschaftlichen Zugang zur Marxschen Theorie. Neben diesen Texten enthält das Buch ein Nachwort mit einer kurzen Einführung in die marxsche Theorie und die wesentlichen Begriffe derselben. Somit eignet es sich auch sehr gut als Einstieg in die Auseinandersetzung mit Marx.
Tobias begann den Vortrag mit einer Erzählung über die Entstehungsgeschichte des Buches und die Suche nach Autor:innen. Besonders schockierend war die Erzählung über die Suche nach einem Verlag. Zweimal sind Verlage nach vorheriger Zusage aus ideologischen Gründen abgesprungen: Einmal, weil sich in einem Nebensatz kritisch über den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan geäußert wurde, und einmal, weil Lenin zu knapp und zu kritisch im Buch vorkommen würde. Nun ja, ganz „normale“ Demarkationslinien der politischen Linken halt, die von gegenwärtigen Verhältnissen nichts wissen wollen.

Der Schwerpunkt der Vorstellung lag jedoch auf der Erörterung mehrerer Thesen zur Bedeutung der Marxschen Theorie, die Tobias zur Diskussion stellte und die einen Überblick über die Inhalte des Buches und den Diskussionsstand innerhalb der MASCH geben sollten. Im Zentrum stand die Frage, was die Marx’sche Theorie heute noch leisten kann und inwieweit sie sich von anderen Theorien unterscheidet. So stellte Tobias die These auf, dass die marxistische Theorie die beste sei, um gesellschaftliche Phänomene zu erklären. Sie sei wissenschaftlich, rational, erweiterbar, bilde die objektive Realität ab und biete eine Perspektive für politische Veränderungen. Thesen wie diese fanden regen Anklang und Widerspruch beim Publikum, in dem natürlich zahlreiche Personen aus der MASCH und dem MASCH-Umfeld anwesend waren. Dabei wurde nicht nur über den Absolutheitsanspruch der Marxschen Theorie diskutiert, sondern auch darüber, wie sich die Marxsche Theorie zur (bürgerlichen) Wissenschaft, zu Moralvorstellungen, zu poststrukturalistischen Ansätzen und zu rechten Denkern verhält.
Dabei wurde vor allem das aufklärerische Erbe Marx‘ hochgehalten, das auch in der heutigen Zeit fortgeführt werden sollte. Allerdings wurde auch klar, dass es abseits der Oberfläche gar nicht so einfach ist, festzustellen, wo die marxistische Theorie heute eigentlich zu verorten ist, wenn man ständig damit beschäftigt ist, sie von „falschen“ Marxisten oder anderen Linken abzugrenzen. Dabei musste ich an Lenin denken, der in der Diskussion eher belächelt wurde und einmal schrieb: „Die Lehre von Karl Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist.“ Worin dieser Wahrheitsanspruch begründet ist und was er für die Analyse der heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse bedeutet, ist für mich die drängende Frage. Diese Frage abschließend zu beantworten, ist unmöglich. Nichtsdestotrotz zeigen dieses Buch und die Diskussion des gestrigen Abends, dass die marxistische Theorie weiterhin ein oder auch der relevante Bezugspunkt bleibt, um gegenwärtige Verhältnisse zu analysieren. Einen Raum, um diese Diskussionen weiterzuführen, bieten sicherlich die Lektürekurse der MASCH. Wer einen Einstieg in die marxistische Theorie sucht oder sich einfach für die persönlichen Zugänge verschiedener Personen interessiert, dem sei zudem das vorgestellte Buch empfohlen.

Noch ein Gedanke: Ich weiß nicht, was Lenin sich dabei gedacht hat, aber sein Spruch klingt ja sehr idealistisch. Was ich am (richtig verstandenen) Marxismus gut finde, ist ja das Gegenteil, der Realismus, das Anerkennen der Tatsachen, der Macht der Objektivität. Die Theorie ist da garantiert nicht allmächtig. Moderne Mainstream- Linke neigen dagegen dazu, die Macht von Wissenschaft und Sprache zu überschätzen. Durch wissenschaftliche und mediale Diskurse werde Realität „konstruiert“. Sie glauben durch andere „Diskurse“, durch andere Sprache (z.B. „gerechte“ Sprache) könne man ziemlich direkt die gesellschaftliche Realität verändern. Im Prinzip Lenin ohne Wahrheit…
Lieber Finn,
vielen Dank für den gelungenen Bericht von der Veranstaltung und die freundliche Empfehlung. Selbstverständlich geht es mir (wie auch Marx) um Wahrheit, also möglichst zutreffende Erkenntnis der Wirklichkeit. Über die Grenzen solcher Erkenntnis bin ich mir im Klaren. Allmachtsphantasien verbinde ich damit nicht. Das Lenin-Zitat kritisieren wir übrigens auch auf S. 50 unten.
Viele Grüße