Was Sie schon immer von Marx wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten – Folge XI.

DIE DREI versuchen mit jeweils drei kurzen Beiträgen zu einer Fragestellung, den Marxismus auf Themen anzuwenden, die es in der Form zur Zeit von Karl Marx noch nicht gab. Oder auch, klassische marxistische Thesen mit aktuellen Bedingungen zu konfrontieren. 
DIE DREI sind im Kern Michael Hopp und Tobias Reichardt, Mitglieder der Marxistischen Abendschule Hamburg (MASCH). Hier seht Ihr das Programm der MASCH und könnt Euch über Kurse informieren: https://www.masch-hamburg.de/
Zu Hopp und Reichardt hinzugekommen sind inzwischen Barbara Eder und Michael Heidemann. Da wir die Anzahl der Beiträge auf drei begrenzt halten wollen, kann eine(r) immer sein „Recht auf Faulheit“  (1880, Essay von Marx-Schwiegersohn Paul Lafargue, der allerdings durch Selbstmord aus dem Leben schied) realisieren.

Folge XI.: Wäre Marx Postkolonialist?

Wenn selbst einer der Autoren die diesmalige Fragestellung als „etwas verunglückt“ empfindet, dann … Zugegeben, eine Frage wie „Wäre Marx Postkolonialist“ ist schon auf den ersten Blick unsinnig, weil es zu Zeiten von Marx noch keinen Postkolonialismus gab, der eine internattionale ideologische Strömung ist, die erst eine Weile nach Marx´ Tod in den 1940er Jahren mit der Unabhängigkeit Indiens aufkam  und in den 1980er Jahren als „Postcolonial Studies“ Einfluss gewann.
Wie in den folgenden Texten – in allerdings unterschiedlichen Einschätzungen – angemerkt wird, ist die Verkürzung in der Fragestellung noch auf einer weiteren Ebene angreifbar: Marx´ Einstellung zum Kolonialismus war war so wenig ausformuliert, dass sich eher die Frage „War Marx Antikolonialist“ angeboten hätte.
Über den Antikolonialismus hinausgehend, gründet der Postkolonialismus auf der Annahme, daß koloniale Herrschaft nicht alleine auf politische, ökonomischer und militärische Dominanz gründet, sondern auch auf einer rassistisch motivierten Ungleichwertigkeit zwischen Herrschern und Beherrschten. Die Aufhebung dieser Differenz durch „Zivilisierung“ zerstöre kulturelle Identitäten und vergrössere damit die Assymetrie. Edward Saids 1978 veröffentlichtes Werk „Orientalismus“ und gilt als Gründungstext der Postkolonialen Studien. Said  stellt die These auf, dass der westliche Blick auf den Orient, den Nahen Osten sowie die arabische Welt, maßgeblich von eigenen Projektionsbedürfnissen und Herrschschaftsansprüchen geprägt sei. Die Darstellung verengte sich auch in der Rezeption auf den arabisch-israelischen Konflikt und Said gilt heute eher als Vordenker eines postkolonialen Antisemitismus. Die Betonung von Identität im postkolonialen Diskurs führte in der Folge zur Identitätspolitik, die die Interessen spezifischer Gruppen, nach ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht, sexueller Orientierung  in den Vordergrund stellt, im Widerspruch zu Universalismus und Klassenanalyse.
In diesem Gesamtbild einen marxistisch grundierten Standpunkt zu formulieren, das sollte mit der verkürzten Fragestellung angeregt werden. Dass nicht verhandelt werden kann, was Karl Marx selbst gesagt hätte, wäre schon bei anderen Fragestellungen in der Serie anzumerken gewesen. Die Formulierung liesse sich aber auch als Subtext für unsere Haltung lesen, dass der Marxismus mit Marx nicht gestorben ist, sondern sich gerade an den neuen Fragen weiterentwickelt. M.H.

Noch nicht dekolonialisiert

Von Barbara Eder, Wien

Karl Marx ist der Denker der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, des Mehrwerts und des Fetischs Ware – ein Antikolonialist war er nicht im eigentlichen Sinn. In seinem Artikel „Die britische Herrschaft in Indien“, 1853 erstmals inder New York Daily Tribune erschienen, bleibt seine Haltung gegenüber der britischen Kolonialmacht ambivalent: Zwar brandmarkt er deren Expansionsbestrebungen als gewaltvoll, erkennt darin aber auch eine scheinbar notwendige Entwicklung in Richtung Fortschritt: Das südasiatische Kastensystem habe bislang wie ein Hemmschuh auf lokale Produktionsverhältnisse eingewirkt, die sich als Produkt einer Gesellschaft ohne Geschichte präsentierten; die Ausbeutung der Subalternen im Dienst britischer Kapitalgesellschaften mag zwar roh und brutal erscheinen, zugleich sei sie ein unerlässliches Übergangsphänomen auf dem Weg in die kapitalistische Moderne.        

Nachdem der indische Subkontinent in den 1830er Jahren zum Schauplatz britischer Profitinteressen geworden war, tummelten sich dort die Handlanger privater Kapitalgesellschaften – von der East Indian Railway Company bis zur Great Indian Peninsular Railway. Von der englischen Krone hatten sie grünes Licht zum Ausbau einer Infrastruktur erhalten, die den Warenexport globalisieren sollte – daran gearbeitet haben andere: Hunderttausende Inder wurden zum Eisenbahnbau zwangsverpflichtet, viele unter sklavenähnlichen Bedingungen. Allein beim Bau der Strecken in den 1850er Jahren kamen über 25.000 Menschen durch Unfälle, Erschöpfung, Krankheiten und mangelhafte Versorgung ums Leben. Die auf diese Weise entstandenen Eisenbahnstrecken ermöglichten nun auch im „Irland des Ostens“ ein rückschrittliches Vorankommen; es führte nicht zur Abschaffung fremder Herrschaft, sondern zur systematischen Intensivierung der durch sie bewirkten Ausbeutung.                                                                                                               

Marx erkennt in der Kolonialsklaverei keine eigenständige Form der Unterdrückung, vielmehr erscheint sie bloß als Abklatsch der hiesigen. Nicht-westliche Ökonomien gelten ihm als „rückständig“, die produktive Arbeitskraft verortet er implizit im europäischen Subjekt. Aufgrund ihrer „natürlichen Überlegenheit“, so wirkt es, wurde die englische Arbeiterklasse zum „unbewußte[n] Werkzeug der Geschichte“; dass die indische es ihr gleichtun könnte, stellt Marx dennoch nicht in Abrede – im prospektiven Folgetext „Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien“ ist seine Prognose sogar günstig: Die nationale Charaktertypologie begünstige es, dass – anders als im Fall der von Marx als „invasiv“ bezeichneten „Völker“ – „die Unterwürfigkeit durch eine gewisse ruhige Vornehmheit“ aufgewogen werden könne.

Marx´ Bild vom unterworfenen Raj basiert auf exotisierenden Projektionen, die das phobische Element im Rassismus ins Positive wenden. Differenz wird ansonsten meist als Defizit gelesen, die koloniale Welt als Vorstufe der historischen Entwicklung. Der Umstand, dass mit einer umfassenden Dekolonialisierung die „Epoche der tausend Marxismen“ (Immanuel Wallerstein) erst beginnen könnte, spräche für einen anderen Verlauf. Frantz Fanon, aktiver Unterstützer und Mitglied des FLN im algerischen Unabhängigkeitskrieg, attestierte Marx eine fundamentale Blindheit in Sachen „Rassenfrage“. Dekolonialisierung war für ihn gerade kein Gentleman’s Agreement, sondern eine Form der Befreiung durch Gewalt. Dabei handelt es sich nicht um eine weitere Durchgangsstufe auf dem Weg zum Europäisch-Werden entlang der Stufen einer altbewährten Fortschrittsdialektik. Wer die koloniale Frage im 21. Jahrhundert beantworten will, muss zuallererst den Blick dekolonisieren, der von Europa aus die Welt ordnet.

Hinter der „Rassenfrage“ verbirgt sich die Klassenfrage          

Von Michael Heidemann, Bremen

Die etwas verunglückte Frage, ob Marx Postkolonialist wäre, lässt sich vielleicht dahingehend ausgestalten, ob er durch die historischen Erfahrungen des frühen 20. Jahrhunderts zu einer reflektierten Auseinandersetzung mit der eigenen geschichtsphilosophischen Heilserwartung gelangt wäre. Der Bruch mit der affirmativen Geschichtsphilosophie des Marxismus vollzieht sich in der frühen kritischen Theorie bei Autoren wie Theodor W. Adorno, Max Horkheimer oder Walter Benjamin. Doch auch bei Marx regen sich im Spätwerk ernste Zweifel am unterstellten notwendigen Stufengang der Weltgeschichte – dies nicht zuletzt in seinen Kommentaren zum Kolonialsystem. Dass Marx einen wachen Blick für die Verheerungen des Kolonialismus hatte, lässt sich bündig anhand zweier Zitate belegen: „Die tiefe Heuchelei der bürgerlichen Zivilisation und die von ihr nicht zu trennende Barbarei liegen unverschleiert vor unseren Augen, sobald wir den Blick von ihrer Heimat, in der sie unter respektablen Formen auftreten, nach den Kolonien wenden, wo sie sich in ihrer ganzen Nacktheit zeigen.“ (MEW 9, 225) „Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingebornen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära.“ (MEW 23, 779)

Gerade diese gewohnt ironische Bemerkung zur ‚Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära‘ deutet jedoch die Ambivalenz in der Marxschen Beurteilung des Kolonialismus an. Berüchtigt ist insbesondere seine journalistische Begleitung der britischen Herrschaft in Indien, aus deren Grausamkeit er keinen Hehl macht, die er aber als das „unbewußte Werkzeug der Geschichte“ (MEW 9, 133) bezeichnet, da sie den indischen Subkontinent aus dem orientalischen Despotismus und der unproduktiven Borniertheit der Dorfgemeinde reiße. Auch im einflussreichen Kommunistischen Manifest von 1848 kommt dieser geschichtsphilosophische Objektivismus, der eine welthistorische Mission der Bourgeoisie behauptet, mit viel Pathos zum Ausdruck. In späteren Jahren stellt Marx die eherne Notwendigkeit des opferreichen Durchschreitens verschiedener ökonomischer Entwicklungsstufen vermehrt in Frage und betont wieder stärker – wie in seinen frühen Texten – die subjektive Seite des bewussten Eingriffs in den Geschichtsverlauf (vgl. u.a. Brief an Vera Sassulitsch, Aufsatz in der Zeitschrift Otetschestwennyje Sapiski).

Es ist müßig darüber zu spekulieren, wie die Person Marx sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zum Phänomen der postkolonialen Abhängigkeit des globalen Südens gestellt hätte. Es sind jedoch nach wie vor die Begriffe der Kritik der politischen Ökonomie, mit der sich die Verhältnisse auf dem Weltmarkt – wenn man so will: im Sinne von Marx – erklären lassen. So arbeitete etwa der guyanische Historiker Walter Rodney in den 1970er Jahren auf marxistisch-leninistischer Grundlage (mit all ihren kennzeichnenden Mängeln) heraus, dass nicht zuletzt der Außenhandel der kolonialen Ausbeutung im 19. Jahrhundert die materiellen Grundlagen dafür schuf, dass sich die Große Industrie in Europa überhaupt auf die „eignen Füße“ (MEW 23, 405) stellen konnte. Es ist nicht allein die Verwissenschaftlichung des Produktionsprozesses, sondern auch die kontinuierlich gegen das Wertgesetz verstoßende Raubökonomie in den Kolonien, die den sich entwickelnden Kapitalismus zum sich selbst reproduzierenden System machte. Die Entwicklung der kapitalistischen Zentren geht somit historisch einher mit der Unterentwicklung der kapitalistischen Peripherie insbesondere in Afrika.

Auch nach der formellen Unabhängigkeit der postkolonialen Staaten seit den 1960er Jahren besteht die internationale Arbeitsteilung auf dem Weltmarkt bis heute darin, dass die ehemaligen Kolonien Rohstoffe und einfache Fertigprodukte in die kapitalistischen Zentren liefern müssen, während sie umgekehrt auf den Import von kapitalintensiven Industrieprodukten angewiesen bleiben, die sie in den Leitwährungen der führenden kapitalistischen Staaten zu bezahlen haben. Ein Wissenstransfer bezüglich der Hochtechnologie findet kaum statt. Eine bürgerliche Klasse, wie sie in Europa über Jahrhunderte hinweg heranwuchs, kann im Modus der nachholenden Entwicklung kaum entstehen. So zeichnen sich die postkolonialen Staaten heute einerseits durch touristische Ressorts in den Küstenregionen und Ballungszentren aus, während andererseits im Hinterland die extraktive Rohstoffindustrie, die gigantischen Monokulturen oder die Müllhalden der globalen Produktion ökologische wastelands hinterlassen. Die Länder des globalen Südens sind Experimentierfeld für die Deregulierungsprogramme des IWF und der Weltbank sowie Aufmarschgebiet und Austragungsplatz von Stellvertreterkriegen. Die durch Massenelend und die vor Ort besonders gravierenden Folgen des Klimawandels bedingten Fluchtbewegungen werden zunehmend in militärisch hochgerüsteten und durch EU-Gelder finanzierten Auffanglagern absorbiert, damit die ‚unnützen Esser‘ die ihrerseits krisengeschüttelten westlichen Staaten nicht zusätzlich destabilisieren. Angesichts dieser jegliche Entwicklung versperrenden Funktionen (oder auch Nichtfunktionen) für den Weltmarkt nimmt sich die auch in ideologiekritischen Kreisen verbreitete Vorstellung, dass die Staaten des globalen Südens ‚erstmal‘ zu liberalen Demokratien werden müssten, überaus naiv, wenn nicht gar zynisch aus. Verlockender scheint gegenwärtig vermehrt die Allianz mit Autokratien wie China und Russland zu sein, die die Hegemonie des Westens direkt angreifen.

Bemerkenswert ist, dass die postkolonialen Weltmarktbeziehungen von den Autoren der frühen kritischen Theorie, wenn überhaupt, nur am Rande thematisiert wurden. Die Kritik der Kulturindustrie und verwalteten Welt war bei Adorno und Horkheimer kaum mit der Interpretation von Handelsbilanzen oder der Analyse globaler Lieferketten verbunden, obschon Adorno immer beteuerte, dass die gesellschaftliche Totalität begrifflich nicht nur zu beschwören, sondern auch durchzuarbeiten sei. Auch der Rassismus blieb im Vergleich zum Antisemitismus in der kritischen Theorie ein nur am Rande gestreifter Gegenstand. Dies mag ein Teil der Erklärung dafür sein, weshalb sich die Kritik der postkolonialen Kontinuitäten und des Rassismus vor allem aus der Traditionslinie des Marxismus-Leninismus entwickelte. Der akademische Postkolonialismus heutiger Zeit lässt sich als Schwundstufe des klassischen Antiimperialismus bestimmen. Er ersetzt die polit-ökonomische Analyse zunehmend durch die poststrukturalistisch inspirierte Diskursanalyse kultureller Phänomene. Damit sei nicht gesagt, dass diese Betrachtungen keinen Gegenstand hätten. Sie werden jedoch nicht mehr in ihrer Beziehung zur Totalität der global durchgesetzten kapitalistischen Produktionsweise begriffen, sondern kulturalistisch gedeutet – als Ausdruck weißer Vorherrschaft gegenüber subalternen ‚Anderen‘, den Black People, Indigenous People und People of Color (PoC).

Rassismus wird somit vermehrt als Ursache und nicht als Folge der kolonialen Ausbeutung angenommen. Gegen diese Verkehrung halten marxistische Historiker wie Eric Williams und Walter Rodney daran fest, dass die Europäer Afrikaner nicht aus rassistischen Gründen versklavten, sondern umgekehrt zur nachträglichen Rationalisierung ihrer grausamen Taten, denen ökonomische Interessen zugrunde lagen, Rassenunterschiede erfanden. Während sich hinter der „Rassenfrage“ also die Klassenfrage verbirgt und die Critical Race Theory Wesen und Erscheinung in fataler Weise verwechselt, lässt sich durchaus von einer Verselbständigung rassistischer Ressentiments reden, die dann wiederum auf polit-ökonomische Verhältnisse zurückwirken. So ist etwa die bis weit ins 20. Jahrhundert hineinreichende „Rassentrennung“ in den USA nicht ökonomistisch allein dadurch zu erklären, dass nach wie vor ein Interesse bestand, rassifizierte Arbeitskräfte unterhalb des gesellschaftlich durchschnittlichen Werts der Ware Arbeitskraft ausbeuten zu können.

So sehr der Rassismus in seiner Eigendynamik also kulturell sedimentiert sein mag, so wenig lässt er sich ohne die Begriffe der Kritik der politischen Ökonomie adäquat kritisieren. Die Befreiungsperspektive der postkolonialen Studien changiert dagegen zwischen dem reformerischen Einfordern von ‚Sichtbarkeit‘ und dem pseudorevolutionären völkischen Ideal vermeintlich urwüchsiger Gemeinschaften. Hierin wiederholt sich die Geschichte des klassischen Antiimperialismus, der seine politische Ohnmacht angesichts der Totalität des Weltmarkts durch den alle Klassengegensätze nivellierenden ‚nationalen Befreiungskampf‘ zu kompensieren versuchte. Den gemeinsamen Fluchtpunkt des ansonsten recht disparaten antiimperialistischen wie postkolonialen Aktivismus bildet heute der militante Antizionismus. Der jüdische Staat Israel – durchaus selbst ein Resultat antikolonialer Kämpfe – wird von postkolonialen Wortführern wie Edward Said, Achille Mbembe oder Ramón Grosfoguel nicht nur als siedlerkoloniales, rassistisches Konstrukt weißer Vorherrschaft zur Unterdrückung einer angeblich indigenen Bevölkerung imaginiert, sondern in klassisch antisemitischer Manier gleich für alle Übel der Welt verantwortlich gemacht (siehe hierzu ausführlich: Ingo Elbe, Antisemitismus und postkoloniale Theorie, Berlin 2024). Diese im progressiven Gewand daherkommende aggressive Form der Gegenaufklärung verpflichtet uns zu einer Kritik kolonialer Kontinuitäten, die nicht hinter die Ideen der Aufklärung zurückfällt, sondern trotz aller Verlogenheit und Heuchelei der liberalen Aufklärungsapologeten am universellen Glücksanspruch festhält. Hierzu muss gar nicht die persönliche Autorität von Marx bemüht werden. Es genügt, seine Einsichten in die Funktionsweise der kapitalistischen Produktionsweise konsequent und erfahrungsgesättigt weiterzudenken.

„Eine neue Ära für ganz Asien“

Von Tobias Reichardt, Hamburg

Die Frage nach der Einordnung von Kolonien und Kolonialismus ist für Marx‘ Geschichtstheorie von zentraler Bedeutung. Marx‘ Geschichtstheorie ist unvollständig, unvollendet. Sie hinterlässt viele offene Fragen. Auf solche offenen Fragen verweisen auch die Kolonien. Wenn wir das Schema eines mehr oder weniger linearen Fortschritts in der Geschichte zugrunde legen, einer notwendigen Abfolge von Gesellschaftsformationen, wie wir es bei Marx und Engels an verschiedenen Stellen finden, so passt der Kolonialismus hier schlecht herein, zumindest macht er die Dinge viel komplizierter. In den kolonisierten Ländern findet keine autonome Entwicklung einer Gesellschaft statt, sondern es tritt der massive, in der Regel gewaltsame Einfluss eines entwickelteren Landes dazwischen. Wie passt dies nun in die Vorstellung von Fortschritt und Entwicklung? Bewirkt der Kolonialismus eine Entwicklung der bisher unterentwickelten Länder? Behindert er sie? Ist für die Kolonien eine volle Entwicklung zum Kapitalismus zu erwarten? Wie sollen sie darüber hinaus zum Sozialismus kommen?

Marx hat auf all diese Fragen, die er in seinem Werk teilweise streift, aber nicht systematisch behandelt, kaum eine Antwort. Das zeigen seine Briefentwürfe an Vera Sassulitsch (MEW 19, S. 384 ff. sowie S. 242). Diese hatte im Namen russischer Revolutionäre gefragt, inwiefern Marx die Möglichkeit für Russland sehe, unter Bewahrung der traditionellen Dorfgemeinschaft – also unter Beibehaltung vorkapitalistischer Verhältnisse – in den Sozialismus zu springen, ohne dass diese vorher vom Kapitalismus aufgelöst werden müssten. Marx hat darauf letztlich keine ihn selbst überzeugende Antwort und zieht sich darauf zurück, dass seine geschichtstheoretischen Äußerungen nur für Westeuropa gölten.

Theoretisch haben Marx und Engels sich nur wenig mit den Fragen der Kolonien beschäftigt. Als Journalist indes verfasste Marx zahlreiche Artikel über Ereignisse in den asiatischen Kolonien, vor allem in Indien. Diese Artikel sind eher deskriptiv-faktenorientiert und sehr zurückhaltend in Bezug auf theoretische Einordnungen und zumeist auch in Bezug auf moralische Bewertungen. Wenngleich Marx die traditionellen Herrschaftsverhältnisse in Asien sehr kritisch sieht, ist ihm auch jede Beschönigung der kolonialen Gewalt fremd. Man fühlt sich vielleicht an jüngere Ereignisse erinnert, wenn Marx in Zusammenhang mit einem Aufstand in Indien äußert, es sei nicht überraschend, dass die Kolonisierten zu Verbrechen und Grausamkeiten gegriffen haben, da sie selbst ebenfalls brutaler Gewalt durch die Kolonialmächte ausgesetzt waren (MEW 12, 273).

Doch es gibt auch Stellen, in denen Marx dem Kolonialismus eine progressive Rolle zuspricht. Er weiß, dass die Zeit der traditionellen Herrschaften in Persien, Indien und China vorbei ist. Er betrachtet es wohl als unvermeidbar, dass die entwickelteren Staaten sich in einer bestimmten geschichtlichen Phase die Länder mit veralteten Herrschaftsformen unterwerfen. Über die langfristige zukünftige Entwicklung gibt es bei Marx und Engels keine präzisen Vorstellungen. Engels deutet an, es werde nach dem Ende der alten Herrschaftsformen „eine neue Ära für ganz Asien“ anbrechen (MEW 12, S. 215).

Zum Postkolonialismus habe ich in diesem Blog bereits einmal Stellung genommen. Marx‘ Gesellschaftstheorie unterscheidet sich meiner Ansicht nach in wesentlichen Punkten vom Postkolonialismus. Marx moralisiert nicht. Bei aller Kritik und Anklage kolonialer Gewalt geht es ihm nicht darum, die Engländer, die Europäer oder gar die „Weißen“ moralisierend zu beschuldigen, was der Postkolonialismus in seiner Identitätspolitik sehr wohl tut. Marx betrachtet die Kolonialgeschichte als eine vielleicht kaum vermeidbare gesellschaftliche Entwicklung. Die traditionellen Herrschaften idealisiert er nicht. Die kolonisierten Völker müssen sich selbst durch gesellschaftliche Modernisierungen und ggf. gegen den Widerstand der imperialistischen Mächte, aber auch gegen interne rückschrittliche Kräfte aus ihrer benachteiligten Situation herausarbeiten. Gerade heute stehen wir in einer Zeit, in der die Menschheit im Kurs auf eine multipolare Weltordnung diesbezüglich weitere Schritte geht. Die „neue Ära für ganz Asien“, die Engels prognostizierte, ist zweifellos angebrochen.

3 Kommentare zu „Was Sie schon immer von Marx wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten – Folge XI.“

  1. @Barbara: Zu deiner Aussage: „Wer die koloniale Frage im 21. Jahrhundert beantworten will, muss zuallererst den Blick dekolonisieren, der von Europa aus die Welt ordnet.“ Was soll das bedeuten? Was ist die koloniale Frage? Was heißt sie „beantworten“? Ist die Forderung nach einem andern Blick nicht bürgerlich idealistisch? Geht es nicht um Produktionsverhältnisse? Die wird man mit Blicken nicht ändern. In diesem Zusammenhang; Ist Fanon für dich ein Marxist?

    1. Zu Fanon kann ich nicht freihändig sagen, ob er Marxist war oder nicht. Was Barbara mit dem „Blick“ meint, verstehe ich allerdings schon. Rassismus lässt sich meinem Wissenstand nach nicht allein aus „Produktionsverhältnissen“ erklären. Zum 150. Geburtstag von Fanon ist eniges erschienen, das das Bild von ihm aktualisiert. Auf meinem Stapel liegen habe ich das sehr gut besprochene https://dietzberlin.de/produkt/denker-der-dekolonisation/ Gibt auch Podcast und alles mögliche dazu.

  2. @Michael: Was meinst du mit „jegliche Entwicklung versperrenden Funktionen? Gab es für dich nach der Entkolonisierung im gesamten globalen Süden keine Entwicklung? Das scheint mir arg pauschal!

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