Wer sind wir? So könnte dieser Text auch überschrieben sein, weil es auch so gut zum Foto unten passt. Das wäre aber viel zu woke, denn die Frage ist ja nicht „wer“, sondern eher „was“? „Wer“ ist zu viel „Identität“. Heute ein paar Gedanken, warum Anti-Woke genauso doof ist wie Woke.
Ich verstehe die Welt nicht mehr, klagen immer mehr. Abhilfe schaffen soll das hier veröffentlichte Programm des ROTEN SALON HAMBURG, das gleich am 15.09. auf die grosse Pauke schlägt mit einer SchauspielerInnen-Lesung des „Kommunistischen Manifests“ von Marx und Engels.
Gegen die grosse Verwirrung!
Alle reden vom Wetter. Wir nicht. Naja. Der berühmt gewordene Posterspruch des SDS (Sozialistischer Deutschen Studentenbund), damals (1968) einer Kampagne der Deutschen Bahn entliehen, hat sich spätestens in diesem Sommer überlebt, in dem Wetter an vielen Orten mit der Wucht des Klimas auftrat.
Heute ist es die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft, die lieber nicht davon spricht, um von den Ursachen des Klimawandels abzulenken, oder sie zu verdrängen.
Im Herbstprogramm des ROTEN SALON HAMBURG wird übrigens mit einer Veranstaltung zu Heinrich Deterings „Die Revolte der Erde“ im November gezeigt, an einem wunderbaren Buch, das die oft als fehlend behauptete ökologischer Sensibilität“ im Werk von Karl Marx frei legt. Seht weiter unten, im Herbstpgramm des ROTEN SALON HAMBURG mit dem bisher unausgesprochenen Motto: Gegen die grosse Verwirrung!
WOVON REDEN WIR DANN?
„Ich versteh´ die Welt nicht mehr“ – jeder von uns, denke ich mal, hört das in diesen Tagen, oftmals verbunden mit einem „Ich will´s auch gar nicht mehr“, das dann, meist arg vereinfachend, begründet wird mit der Unverlässlichkeit der heutigen Medienkanäle und all ihrer Fake News.
„Ich verstehe die Welt nicht mehr“ trifft übrigens, in einem lieber durch andere zu bestimmenden Ausmass, auch auf mich zu.
Kann aber auch als eine zunächst gar nicht zu kritisierende Aussage gesehen werden, wenn sie zum Anlass genommen wird, die Mangelerscheinung zu bekämpfen und damit wenigstens abzumildern.
Ich dachte immer, in der Linken sei man damit gut aufgehoben, weil sie eine Weltsicht und einen Bezugsrahmen bietet, der einem Analyse – und Aktionsinstrumente in die Hand gibt – aber weit gefehlt. „Die Linke“ ist heute so fein ziseliert zerklüftet, dass sie zu keinen gemeinsamen „Einschätzungen“ (so nannte man das früher) findet, selbst nicht innerhalb kleinster Biotope wie der MASCH (Marxistische Abendschule Hamburg), die sich auf einen „reinen Marx“ (vor Lenin) bezieht.
Weder der Ukraine- noch der Gaza-Konflikt, nicht mal der Klimawandel, der weit weniger kompliziert ist, lassen sich unter diesem theoretischen Dach einmütig einschätzen.

HER MIT DER TOTALITÄT!
So war ich gleich dafür zu haben, als ich auf der Suche nach „Kandidaten“ für den ROTEN SALON auf „Totalität“ von Axel Struwe im Vebrecher Verlag stiess, aber auch auf „Die Gewalt der Totalität“ von Friedrich Voßkühler im Mangroven Verlag – zwei Bücher ürbigens, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.
Der Verbrecher Verlag beschreibt das Buch von Axel Struwe, absolut zutreffend und für mich besonders spannend, so:
„Totalität beschreibt das Problem, ob und wie es überhaupt möglich ist, Gesellschaft als Ganze zu begreifen. Mit dem »Ende der großen Erzählungen« schien sich diese Frage erübrigt zu haben. Aber in der multiplen Krise, Klimakatastrophe und dem globalen Erstarken der Rechten kehrt die Notwendigkeit wieder, den Zusammenhang des Ganzen zu bestimmen. Mit Kapitalismuskritik, Klassenanalyse und Gesellschaftstheorie kommt auch das verdrängte Problem der Totalität zurück.
Aktuelle Theorien müssen diese Leerstelle der Totalität nun füllen. Vom Populismusbegriff zur Neuen Klassenpolitik über die Wiederentdeckung der Kritischen Theorie, des Autoritarismus bis zur Geschichtsphilosophie wird zwar wieder über Struktur und das Ganze der Gesellschaft spekuliert. Aber diese Bestimmungen bleiben notwendig abstrakt – und damit Teil des Problems.
Ist Totalität also immer eine schlechte Verallgemeinerung oder gibt es sie in Wirklichkeit? Alex Struwe spürt dieser Frage nach und findet bei Marx und der Entwicklung des Materialismus bis zu Theodor W. Adorno Möglichkeiten einer konkreten Bestimmung des Gesamtzusammenhangs. Diese Theorien nachzuvollziehen bietet auch die Chance auf eine Erkenntnis der Gegenwart. Und ohne diese gibt es keinen Einspruch gegen die herrschenden Verhältnisse.“
ZWISCHENTÖNE SIND NUR KRAMPF IM KLASSENKAMPF
Ich kann hier nur ein paar Beobachtungen aus meinem Umfeld formulieren, von Phänomen, die mir hinderlich scheinen, ein „Großes und Ganzes“ zu definieren, das aus der Spaltung herausführt und irgendwann mal wieder zu politischer Aktion befähigt.
In meinem näheren Bekanntenkreis wurde ich auf die textliche Vorbereitung eines Redevortrags auf einem internationalen marxistischen Forum gestoßen. Darin heisst es u.a.:
„Nach Marx bestimmt dieser Prozess der sozialen Produktion, oft als Wirtschaft bezeichnet, andere Bereiche der Gesellschaft wie Politik, Recht, Religion und Denken.“
„… Marx unterscheidet daher zwischen wichtigeren und weniger wichtigen Schichten der Gesellschaft.“
„Moralische Ermahnungen sind dem Marxismus fremd. Dies steht im Gegensatz zu Ansätzen, die die Rolle des Individuums, des Denkens und der Sprache betonen und auf postmodernen Theorien basieren.“
„Durch Bildung sollen Individuen sensibler werden und eine weniger gewalttätige und harte Sprache verwenden. Worte werden als sehr wichtig angesehen. Dieser Ansatz zur Welt hat viele Ähnlichkeiten mit der Weltanschauung der liberalen Linken, der Woke-Bewegung.“
Die über den ganzen Redevortrag aufblitzende Abwertung des „Überbaus“, auch von Bildung und Sprache, als „weniger wichtig“, immer verbunden mit nicht näher ausgeführten Abgrenzungen von Foucault, Strukturalismus, „Postmoderne“ und der „Woke-Bewegung“ nahm ich zum Anlass für folgende, als Mail verschickte Widerrede:
Kultur, Sprache, Wissenschaft, Bildung, aber auch das Individuum – das soll alles „weniger wichtig“ sein? Ich finde, das geht hinter die Kritische Theorie zurück, die mit ihrem integrierten Ansatz die Gesellschaft als Ganzes besser beschrieb, als es das reine Starren auf die Ökonomie erlaubt. Generell dachte ich, dass wir das Denken in Haupt- und Nebenwidersprüchen – wie im chinesischen Mao-Kommunismus – schon in den 70er Jahren abgeschlossen und komplexeren Theorien Raum gegeben haben. Ich hätte auch nicht mitbekommen, dass Karl Marx es verwendet.
Ich selber, aus einer christlich-marxistischischen Sozialisation herkommend (IGITT!), bin ideologisch geprägt duch die „Neue Linke“, durch den TUNIX-Kongress 1978 in Berlin, (bei dem übrigens Foucault, Deleuze und Guattari anwesend waren) aber auch durch den damals aufblühenden Feminismus und die linksradikale „Homosexuelle Aktion Westberlin.“ Der Marxismus war immer Fundament und stand für mich nie in Widerspruch zu Literatur, Kunst und Psychoanalyse, um nur dreivom heutigen Marx-Marxismus scheel angesehene Strömunge zu nennen.
.WER STEHT JETZT FÜR „ARBEIT“ IN DER GESELLSCHAFT?
Die Negierung des „Überbaus“ zugunsten des „Hauptwiderspruchs“ zwischen Kapital und Arbeit hat auch den Nachteil, dass sich daraus keine politischen Handlungsfelder ergeben. Das klassische Proletariat ist anteilsmässig stark rückläufig (75 Prozent der erwerbstätigen Deutschen sind im Dienstleistungsbereich beschäftigt, über 90 Prozent in den USA) und keineswegs eindeutig „links“. Es kann schon deshalb nicht die Aufgabe erfüllen, die ihm Marx zugewiesen hatte. Daher hat die Linke eigentlich schon seit den 70er Jahren – die Zeit, in der ich politisch geprägt wurde – die ganze Gesellschaft als Arbeitsfeld erkannt.
Die Fixierung auf die klassischen Produktionsverhältnisse als Bestimmung der gesellschaftlichen Entwicklung, verschließt die Augen gegenüber den Strukturen in der Reproduktion und ist blind für ältere Strukturen wie Patriachat, Macht, falsche Autorität und unterdrückerische Hierarchie. Die Reproduktion ist bei Marx Bedingung der Produktion und die in ihr vorhandenen Machtstrukturen genauso Gegenstand der Aufhebung.
Der Rückgang der Industriearbeit bedeutet natürlich nicht, daß das Verhältnis Kapital-Arbeit aufgehoben ist – es tritt nur in veränderter Form auf. 50 bis 70 Millionen Menschen weltweit sind Opfer der modernen Sklaverei – Clickworker, die Arbeit in Chipfabriken, erzwungene Arbeit in der Textilbranche und bei der Rohstoffgewinnung, Menschenhandel, neue Erscheinungen im Umfeld von Migration und Digitalindustrie. Die Ausbeutung und die Geldschneiderei daraus folgen neuen Regeln, die erst erforscht werden müssen.
Wenn das grosse Bild auf dem Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit beruht, muss geklärt werden, wer „Arbeit“ vertritt, dazu gehört ein neuer Begriff von „Arbeit“ und von „Klasse“, der nur in Richtung einer größeren Vielfalt gehen kann.
ABLEHNUNG VON WOKE FÜHRT NIRGENDWO HIN
Für die Linke ist genug zu tun – auch angesichts steigender Verteilungskämpfe in Folge von Migration und Klimawandel. Schon in der heutigen Migrationsspolitik verbirgt sich ein Verteilungskampf (um den Zugang zu Sozialsystemen und Wohnraum), künftig wird es auch darum gehen, wer sich mit kühler Luft und Wasser versorgen kann und wer nicht.
Umso unglücklicher ist es, dass in dem Text die Klimabewegung als „woke“ abgewertet wird, Das stimmt rein faktisch nicht, die Erkenntnisse kamen aus ganz anderer Richtung und die Klima-Bewegung ist auch nicht woke – vor allem aber schiebt es den Klimaschutz von der „gut-marxistischen“ Linken weg.
Dass diese Spaltung ohnehin schon passiert ist, empfinde ich als Katastrophe, die der Linken Relevanz kostet. Erst mit jahrzehntelanger Verspätung beginnt sich durchzusetzen, dass Ökologie und Marxismus kein Widerspruch sind, sondern ganz im Gegenteil. Die Spaltung immer weiter zu verstärken – verstehe ich nicht.
Dass in dem Text die mehr als augenfälligen Umbrüche der heutigen Zeit nicht als Bedingung für eine aktuelle marxistische Theorie gesetzt werden, sondern eher eine Art Schattenboxen gegen andere Theorien stattfindet – gegen die „woke“, gegen die „bürgerliche“ – das scheint mir das Hauptproblem zu sein und vielleicht auch Symptom einer Haltung, die mit Marx nicht weiterkommt, weil sie ihn auf das Ökonomische reduziert. Wer es mit der Erkenntnis übertreibt, die Bereiche der Gesellschaft seien von der Ökonomie „bestimmt“, muss an der Analyse von vielem, was heute an „sozialer Entwicklung“ geschieht, scheitern.
Auch führt die gebetsmühlenartige Verdammung der Woke-Bewegung in einen Rückschritt, der uns immer weiter vom Universalismus entfernt. Menschen werden sich ihre „Identität“ nicht ausreden lassen, und wer in Hamburg unter den 260.000 Teilnehmer des Christopher Street Day (CSD) in Hamburg war, hätte erkannt, wie unsinnig diese Idee ist.
Die erneute Abgrenzung von sexueller Identität führt für die Linke zur weiteren Marginalisierung, vor allem aber dazu, diese Unterdrückungserfahrungen von der Rechten zur politischen Bewirtschaftung zu lassen. Soviel erstmal.
Nehmt das bitte als Besprechung zu:
Alex Struwe, Totalität – Marx, Adorno und das Problem Kritischer Gesellschaftstheorie, Verbrecher Verlag, Berlin 2025, 20.00 €
Gegen die große Verwirrung

DAS PROGRAMM DES ROTEN SALON HERBST/WINTER 2025
Hier sind wir wieder!
Mit großen Plänen, aber geringen Ressourcen, starten wir in die neue Saison. Am besten unterstützt ihr uns durch zahlreiches Erscheinen bei den Veranstaltungen – und ggf. einer kleinen Spende! Und vielleicht noch, indem ihr ganz unten in dieser Mail die Suchanzeige nach MitstreiterInnen für den ROTEN SALON durchlest.
Zum Auftakt dieses Herbstprogramms, für den 15.9., haben wir etwas ziemlich Besonderes (wenn auch nicht grundsätzlich Neues) vorbereitet: eine SchauspielerInnen-Lesung von „Das Kommunistische Manifest“ von Karl Marx und Friedrich Engels. Das „Manifest“ ist einer der wirkmächtigsten und hellsichtigsten Texte der Geschichte, das „einflussreichste politische Schriftstück seit der Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution“, wie es beim britischen Historiker Eric Hobsbawm heißt.
Hobsbawm hat die Einleitung zu einer „modernen Edition“ des „Manifests“ geschrieben, die 1999 im Hamburger Argument Verlag erschienen ist *). Auf dieser Ausgabe beruht auch unsere Lesung.
Warum Lesung? Neben ihres visionären Gehalts zeichnet sich diese im Februar 1848 erstmals veröffentliche Flugschrift durch „Schönheit und gedrängte Wucht der Sprache“ (Martin Hundt) aus, geprägt von „leidenschaftlicher Überzeugung, konzentrierter Kürze und fast biblischen Sprachgewalt“ (Hobsbawm) – allesamt Qualitäten, die in einem gelungenen Vortrag ihre Wirkung noch erhöhen.
Vor Iris Minich, der Hamburger Schauspielerin (Schauspielhaus) und Mitglied der Performance-Gruppe JAJAJA, die im ROTEN SALON Auszüge aus dem „Manifest“ liest, haben dies mit großem Erfolg Katharina Thalbach und Rolf Becker getan.
EIN TOLLE LESUNG DES MANIFEST – ES IST FAST UNMÖGLICH, NICHT ALS KOMMUNIST RAUSZUGEHEN, FÜR EIN PAAR STUNDEN ZUMINDEST
Historischer Text? Schön wäre es! Das „Manifest“ ist hochaktuell.
„Entscheidend ist jedoch“, nehmen wir noch eine Anleihe bei Hobsbawm, „dass die durch die Kapitalismus veränderte Welt, die Marx 1848 in Passsagen einer düsteren, lakonischen Eloquenz beschrieb, unübersehbar die Welt ist, in der wir mehr als 150 Jahre später leben.“
*) Karl Marx und Friedrich Engels, Das Kommunistische Manifest – Eine moderne Edition, Argument Verlag, Hamburg, 1991
ROTER SALON IM HERBST/WINTER 2025
Montag, 15. September 2025, 18 Uhr 30
Karl Marx, Friedrich Engels, Das Kommunistische Manifest, Argument Verlag,
Dienstag, 28. Oktober 2025, 18 Uhr 30
Jenny Kellner, Anti-Ökonomischer Kapitalismus – Batailles Nietzscheanische Herausforderung, Campus Verlag
Montag, 24. November 2025, 18 Uhr 30
Heinrich Detering, Die Revolte der Erde, Wallstein Verlag
Samstag, 6. Dezember 2025, nachmittags
In Planung: ROTER SALON zu Gast auf dem Buch-Markt des „Verbands unabhängiger Verlage“ (LuV) in der StaBi , mit
Jürgen Bönig, Otto Meissner – Nicht nur der Verleger des Kapital, VSA Verlag
(kurze Version des ROTEN SALON vom 30. Juni 2025)
WER MÖCHTE MITMACHEN BEIM ROTEN SALON?
Wir suchen MitstreiterInnen! Bis jetzt eine freie Gruppe, planen wir aktuell, ein Verein zu werden und unsere Aktivitäten zu verbreitern,
Wir wollen in Zukunft anspruchsvoller, politisch linker Lektüre nicht nur auf Veranstaltungen Raum geben, sondern ev. auch als Blog und in weiteren Formaten in Social Media oder als Podcast.
Sprecht uns an, wenn ihr darauf Lust habt!
Die Möglichkeiten, einzusteigen sind vielfältig und der Zeitpunkt gut, jetzt, wo wir noch fast am Anfang sind.
Bleibt wachsam, lasst euch nichts gefallen,
Finn, Henry, Michael
ROTER SALON HAMBURG
Eintritt: frei – Spenden willkommen!
Anmeldung: roter-salon-hamburg.de
Ort: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Von-Melle-Park 3, im Vortragsraum 1. Stock.
(Ende)