Die Linke muss wieder lernen, die Kipppunkte zu bespielen

Von Philipp Staab

Die gute Nachricht: Politischer Wandel lässt sich heute viel schneller bewirken. Der Klimawandel muss kein Thema bleiben, das nur im rechten Widerstand gegen Klimapolitik eine politische Rendite abwirft. Die politische Linke muss weiterhin auf Zuspitzung und die korrekte Zurechnung von Verantwortung und Schuld setzen – und wird damit zunehmend auch gehört werden. Die rechten Projektionen sind keine politische Lebensversicherung, denn sie werden immer häufiger mit realen Katastrophen konfrontiert werden, die man irgendwann nicht mehr auf Einwanderung und Bürgergeldempfänger schieben kann.
Staabs Beitrag passt in die Zeit, in der wir uns auf den ROTEN SALON mit Heinrich Detering zur ökologischen Dimension des Werks von Karl Marx am 24.11. vorbereiten. Zu Info und Anmeldung: https://roter-salon-hamburg.de Der SALON will einen Anstoss bieten, in diese Richtung nachzudenken: Wie liesse sich die Spaltung in „links“ und „ökologisch“ beenden? Wie lässt sich dem Klimaschutz ein politisches Momentum gewinnen, das mit rationaler Erkenntis arbeitet und damit auch Alternativen zum Kapitalismus anstrebt? M.H.

Philipp Staab ist Professor für Soziologie von Arbeit, Wirtschaft und technologischem Wandel an der Humboldt-Universität zu Berlin und Co-Direktor am Einstein Center Digital Future. In seiner Forschung verbindet er Themen der Arbeit, Sozialstrukturanalyse, Techniksoziologie und politischen Ökonomie in gegenwartsanalytischer Absicht. Aktuell befasst er sich mit der Entwicklung des digitalen Kapitalismus, der Entfaltung des ökologischen Gesellschaftskonflikts, den Veränderungen spätmoderner Gesellschaften im Kontext von Krieg und den politischen Krisen, die sich aus diesen Zusammenhängen ergeben. Zuletzt erschienen seine Bücher Digitaler Kapitalismus. Markt und Herrschaft in der Ökonomie der Unknappheit (2019) und Anpassung. Leitmotiv der nächsten Gesellschaft (2022). Im Herbst 2025 erscheint bei Suhrkamp Systemkrise. Legitimationsprobleme im grünen Kapitalismus.

Der Klimagipfel von Bélem markiert das zehnjährige Jubiläum des Pariser Abkommens von 2015. Seinerzeit hatten sich 195 Staaten unter anderem auf das Ziel verständigt, die Erderwärmung im besten Fall auf unter 1,5 Grad zu beschränken. Jenseits von Staatschefs und Wissenschaftler*innen aus aller Welt waren Prominente wie Leonadro Dicaprio, Arnold Schwarzenegger, Robert Redford, Sean Pen nach Frankreich gereist, um für ambitionierten Klimaschutz zu werben. In der Folge setzten sich zahlreiche Staaten Ziele zur Reduzierung von Treibhausgasen. Klimaneutralität sollte zum neuen Leitstern der Wirtschafts- und Infrastrukturpolitik werden. Blicken wir heute nach Brasilien scheint von diesem politischen Transformationsoptimismus nicht mehr viel übrig zu sein. Nicht nur war 2024 mit 1,6 Grad Erderwärmung das wärmste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen. Die USA sind zum zweiten Mal aus dem Pariser Abkommen ausgetreten. Weltweit steigen die Emissionen weiterhin.

Paris ist im Alltag angekommen

Immer wieder wird auf die Freiwilligkeit der Vertragsstaaten bei der Umsetzung des Abkommens verwiesen, um zu erklären, warum die von ihm gesteckten Ziele nicht erreicht werden. Schließlich ist es den Ländern im Grunde selbst überlassen, welche Maßnahmen sie ergreifen oder ob es bei Lippenbekenntnissen belassen. Aus dieser Perspektive liegen die Probleme ganz oben, bei grundsätzlichen architektonischen Fehlern der Vereinbarung. Sie hätte bindender Regeln bedurft, um ihre Ziele zu erreichen.

Allerdings spielt sich der Klimaschutz schon lange nicht mehr primär auf der Flughöhe wissenschaftlich bestens informierter, internationaler Konferenzen und Abkommen ab. Gerade nach Paris ist er zu einer treibenden Kraft wirtschaftlicher und sozialer Veränderung geworden. Dabei hat es durchaus beachtliche Entwicklungen gegeben. China könnte schon heute praktisch die ganze Welt mit Photovoltaik versorgen und die Erneuerbaren sollen in der Kostenrechnung unschlagbar günstig sein. Führende westliche Industrienationen wie die USA oder Deutschland hatten sich zwischenzeitlich bemerkenswerte wirtschaftliche Modernisierungsprogramme zum Zweck des Klimaschutzes vorgenommen – man erinnere sich nur an der Inflation Reduction Act der Administration Biden oder das Programm, das in Deutschland schwerpunktmäßig von Robert Habecks Wirtschaftsministerium verantwortet wurde.

Gerade mit diesem Ankommen des Klimawandels in den alten Demokratien Westen und dem Alltag ihrer Bürger*innen hat sich allerdings eine paradoxe Situation aufgetan. Auf der einen Seite hat in diesen Gesellschaften seit den 1980er Jahren ein langfristiger und äußerst erfolgreicher Aufklärungsprozess hinsichtlich der ökologischen Folgen der Industriegesellschaft stattgefunden. In Deutschland erachten heute bis zu 90% der Bevölkerung den Klimawandel als zentrales Problem, für das sie politische Antworten erwarten. Auf der anderen Seite hat aber mittlerweile an den Wahlurnen Erfolg, wer sich bemüht, die Klimafrage weitgehend zu ignorieren. Während das Bewusstsein über und die Mittel für eine Klimawende im Geiste von Paris also eigentlich zur Hand sind, stehen beim Handeln die Weichen auf Beharrung und aggressiver Abwehr. So besehen sind es weniger die architektonischen Schwächen des globalen Klimaregimes, die die Wende verhindern. Vielmehr hat sich weiter unten, auf subsidiären Ebenen der Gesellschaft etwas zusammengebraut, das die Leute dazu bringt, entgegen besseren Wissens und demoskopisch gut dokumentierter Ängste, dem ökopolitischen Programm von der Fahne zu gehen.

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Autor Philipp Staab sieht die Strategien der Rechten an „Kipppunkten“ des Klimawandels scheitern

Jenseits der Modernisierung

Erstens ist da der Charakter der ökologischen Frage selbst wie er heute in den alten Industriegesellschaften des transatlantischen Westens thematisiert und erfahren wird. Stand der Klimawandel in den achtziger und neunziger Jahren noch für ein Phänomen, das mit dem Begriff des kalkulierbaren Risikos einigermaßen treffend beschrieben war, haben wir es heute mit einer längst akut gewordenen Bedrohung zu tun. Die Klimakrise ist von einer unheilvollen Erwartung, der man erfolgreich hätte vorbeugen können, zu einem Phänomen geworden, das nicht mehr nur im globalen Süden, sondern auch in den Zentren des Nordens spürbar ist. Von Überschwemmungen in Florida und Waldbränden in Kalifornien über die Flut Ahrtal, die Feuer in der sächsischen Schweiz oder an der französischen Atlantikküste bis hin zum trocken liegenden Rhein und der verdorrenden Poebene. Was es zu verhindern galt, ist als markante Bedrohung in unseren Alltag eingesickert.

Hier treffen die ökologischen Verheerungen heute auf eine ganze Phalanx anderer mit Angst besetzter Themen, mit denen sie in mediale Konkurrenz treten. In den letzten Jahren hat sich die Klimafrage in diesem Umfeld immer wieder hinter noch akuteren Krisen einreihen müssen. Fridays for Future wurde von der COVID Pandemie aus der Öffentlichkeit verdrängt. Die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten taten ihr Übriges, um sie an einer Rückkehr zu hindern.

Die Lebenswelten der Menschen allerdings sind anders gestrickt. Sie funktionieren nicht nach der Single Issue Logik medialer Aufmerksamkeit. Was nicht mehr öffentlich ist, ist hier nicht automatisch weg. Vielmehr schichten sich im Bewusstsein der Bürger*innen die wahrgenommenen Bedrohungen übereinander und reichern sich gegenseitig an. Die verschiedenen akuten Krisenmomente der letzten Jahre haben sich in der Folge zu einem allgemeinen Gefühl der Ohnmacht kumuliert. In großen Teilen der Gesellschaft wird der Overload in Form eines panischen Festhaltens, an bestehenden Verhältnissen und Ordnungsmustern verarbeitet. Zugespitzt formuliert: das Beharren auf Dieselmotor und Ölheizung geht nicht wirklich auf Sorglosigkeit in ökologischen Dingen zurück. Es ist der Ausdruck einer defensiven Grundhaltung spätmoderner Lebenswelten im Angesicht fundamentaler Selbsterhaltungsprobleme.

Diese abwehrende Schockstarre ist zweitens kaum anschlussfähig an die konkreten Programme, mit denen der Geist von Paris auf seine Umsetzung drängte. Weltweit ist das Abkommen als Startschuss einer gigantischen Agenda grüner Modernisierung interpretiert worden. Zwar wären die Klimaziele auch durch das Schrumpfen der Wirtschaft prinzipiell erreichbar gewesen. Politisch als zumutbar galt freilich ausschließlich das Paradigma des grünen Wachstums. Sein Versprechen lautete nicht nur, dass die industrielle Lebensweise zum Nulltarif für die Natur zu haben sein könnte. Vielmehr sollte die Bearbeitung des Klimawandels letztlich sogar Chancen durch grüne Jobs in neuen Wachstumsindustrien bieten, die Umbrüche in anderen Sektoren des Arbeitsmarktes mehr als ausgleichen würden.

Das politische Scheitern dieses grün-modernen Aufbruchs liegt zu großen Teilen an der Tatsache, dass sich der liberale Erneuerungsansatz selbst erschöpft hat. Erfolgreiche Modernisierungsprozesse basieren stets auf einer Allianz zwischen lebensweltlichen Orientierungen in der Gesellschaft und der Zielrichtung, die das politische System liefert. Als im 19. und 20. Jahrhundert die Arbeiterbewegung den Wunsch nach Befreiung von entfremdeter Lohnarbeit und absoluter Dominanz durch die Unternehmerklasse artikulierte, ermöglichte dies den Aufbau von Wohlfahrtsstaaten als zentrale Elemente gesellschaftlicher Modernisierung. Als sich in den 1960er und 70er Jahren eine emanzipatorische Kritik an den starren Strukturen der Industriegesellschaft artikulierte – man denke an die Hippie-, Studierenden-, Frauen- und später Umweltbewegung – konnte diese vom System genutzt werden, um einen liberalen, kreativeren und individualistischen Kapitalismus zu errichten. Heute stehen die Dinge deutlich anders. Furchtsam erstarrte Lebenswelten wünschen sich vor allem eines: Die Verlängerung bestehender Verhältnisse. Modernisierungsprogramme kommen aber niemals ohne Interventionen in den Alltag aus. Vor diesem Hintergrund werden selbst moderate Versuche der Marktgestaltung populistisch verhetzbar. Man denke nur an das Heizungsgesetz, das sogleich als „Energie-Stasi“ (Bild Zeitung) mit der Vorstellung eines den Privathaushalt infiltrierenden Wirtschaftsministers verbunden werden konnte.

Demokratische Kipppunkte

Zehn Jahren nach Paris stehen wir also so vor einer Situation, in der uns die technischen Mittel für eine ökologische Modernisierung gegeben sind, sie aber gleichzeitig als politisches Projekt immer schlechter funktioniert. Gerade nach dem politischen Scheitern der liberalen Antwort auf den Klimawandel kann man den Eindruck gewinnen, dass es der Rechten gelungen ist, der ökologischen Angst einen neuen Ort zu geben. Der sogenannte Vibe Shift nach rechts besteht politisch schließlich primär darin, alle erdenklichen Sorgen an der Einwanderungsfrage auszurichten und gleichzeitig die Hyperstabilität der fossilen Lebensweise zu beschwören. Man versichert sich der eigenen Handlungsfähigkeit durch Grenzkontrollen, Abschiebungen, Stadtbilddiskussionen, und der Stabilität der eigenen Lebenswelt durch fossile Restauration und „Drill Baby Drill“. Erkennt man diesen Zusammenhang, dann schälen sich allerdings auch alte Konturen der Linken wesentlich deutlicher heraus als dies in den Jahrzehnten liberaler Hegemonie der Fall war. Links und ökologisch gehören dann schon deswegen zusammen, weil das Spiel der Rechten in der Übertragung der nicht zuletzt durch die Aufklärung über Klimafragen erzeugten Ängste auf Minderheiten und Randgruppen besteht. Zugleich wird deutlich, dass die Linke womöglich auf die baldige Erlösung aus dem klimapolitischen Schweigepakt hoffen darf, der sich durch das kolossale politische Scheitern der grünen Modernisierung ergeben hat. Die Aufklärung über die ökologische Krise ist einstweilen relativ stabil. Die rechten Projektionen werden immer häufiger mit realen Katastrophen konfrontiert werden, die man dann auch nicht auf Einwanderung ohne Bürgergeldempfänger wird projizieren können. Das Verschobene wird wieder ins Licht drängen. Es gilt, sich auf diesen Moment vorzubereiten, indem man den politischen Raum studiert, in dem der Gegner gerade so virtuos navigiert. Meiner Ansicht nach ist hier vor allem die enorme Instabilität der politischen Verhältnisse entscheidend. Nach Jahrzehnten liberaler Hegemonie befinden wir uns heute in einer Situation, in der, wie die Rechte uns zeigt, politischer Wandel viel schneller möglich ist als bisher. Die politische Linke muss hier weiterhin strategisch auf die korrekte Zurechnung von Verantwortlichkeit und Schuld setzen. Sie darf sich nicht hinter der Verteidigung einer liberalen Semantik verschanzen, sondern muss aktiv in den Konflikt gehen und ihn dramatisch zuspitzen. Sie muss sich damit befassen, wie man ökopolitische Fortschritte erzielen kann in einer Situation, in der man selbst nach Wahlerfolgen stets in stürmischen Gewässern segelt. Vor allem aber muss sie taktikfähig werden, denn die Demokratie im Klimawandel ist eine Demokratie politischer Kipppunkte. Die Linke muss wieder lernen, diese Kipppunkte zu bespielen.


Dies ist die ungekürzte Version eines Textes, der zuerst am 15.11. in der wochenTAZ erschienen ist

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